Ich war mir um ehrlich zu sein unsicher, ob ich den Thread hier oder in der Bücherei eröffnen sollte. Es passt beides nicht wirklich.
Wie dem auch sei, ich möchte gerne das erste Kapitel einer kleinen Geschichte mit euch teilen, an der ich gerade arbeite. Es würde mich riesig freuen, wenn mir mir etwas Feedback gebt, und vielleich auch einen oder zwei Wünsche, was ihr gerne im nächsten Kapitel sehen möchtet.
Kapitel 1: Die Nacht, in der der Bambus duftete
Es war eine dieser Nächte, wie sie nur in Gensokyo vorkommen konnten – eine Mischung aus unheimlicher Klarheit, die den Himmel so klirrend scharf wirken ließ, als hätte jemand den Vorhang zwischen den Welten einen Spaltbreit zu weit aufgezogen, und einem Duft in der Luft, der vage an in Honig getauchte Kirschblüten erinnerte, obwohl weder Honig noch Kirschblüten zur Jahreszeit passten. Keine Kamishirasawa, ihres Zeichens Lehrerin, Historikerin, Verteidigerin des Menschendorfes und in gewisser Hinsicht wandelnder Almanach mit Bonsai, stand am Rand des Bambuswaldes und fragte sich, zum wievielten Mal in diesem Mondzyklus sie eigentlich hier herumstolperte, obwohl sie wusste, dass sich in diesen Schatten selten etwas Gutes versteckte. Oder eher: selten etwas Harmloses. Oder, noch genauer: selten etwas, das sie nicht entweder irritieren, bekämpfen oder – im schlimmsten Fall – verwirren würde.
Heute war so eine Nacht.
Der Vollmond hing wie eine zu große Laterne am Himmel, von den Lunarians vielleicht extra angezündet, um ihre Spaziergänge absichtlich unangenehm zu beleuchten. Keine fühlte bereits ein leichtes Prickeln unter der Haut – nicht der Art, wie es einem romantischen Helden beim Anblick seiner Geliebten passiert, sondern eher wie ein inneres Kitzeln, das sich langsam aber sicher zu dem animalischen Ruck entwickelte, den sie so gut kannte. Die Verwandlung. Die Hakutaku, ihr anderes Ich, regte sich schon leise hinter ihren Augen und klopfte an.
„Noch nicht, du alte Kuh...“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu irgendwem sonst, denn der Bambus antwortete selten, und wenn doch, dann in Form seltsamer Geräusche, die meistens kein gutes Ende bedeuteten.
Sie trat tiefer in den Wald hinein, ihre Schritte vorsichtig, obwohl sie wusste, dass Vorsicht in Gensokyo ein relativer Begriff war. Alles war relativ, wenn man mal darüber nachdachte – Zeit, Raum, Anzahl der Yakumos, die einem an einem schlechten Tag über den Weg laufen konnten. Aber ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als ein Rascheln sie links von einem Bambusrohr aufschrecken ließ. Kein gewöhnliches Rascheln. Nein. Es war ein „Ich-bin-hier-und-ich-bin-nicht-allein“-Rascheln. Ein Rascheln, das unterschwellig brummte, als hätte jemand einem Tanuki einen Kamm gegeben und gesagt: „Mach was Mysteriöses.“
„Wer da?“, rief Keine, halb genervt, halb bereit, auf den nächsten Bambushalm zu springen, sollte sich herausstellen, dass es wieder einer dieser Hasen von Eientei war, die dachten, es sei witzig, sich unter ihren Rock zu rollen. (Sie waren simple Gemüter. Sie wussten es nicht besser.)
Doch keine Antwort kam. Nur ein weiteres Geräusch. Schwerer. Näher. Schnüffelnder.
Dann – ein Schatten. Und zwei Augen, wie man sie nur beschreiben konnte, wenn man in einem kitschigen Liebesroman eine Metapher zu viel benutzt hatte. Goldgelb, wie in Bernstein eingefrorenes Sonnenlicht, das durch einen Whiskeyfilter geflossen war. Und aus diesem Schatten trat eine Gestalt, so wild und doch so elegant wie ein Gedicht über Wölfe, das von jemandem geschrieben wurde, der selbst einer war.
„Du bist keine Häsin“, sagte die Gestalt, und ihre Stimme klang wie das Schnurren einer Raubkatze, die beschlossen hatte, heute diplomatisch zu sein. „Und du bist... definitiv keine Dorfbewohnerin.“ Keine schob sich langsam die Brille zurecht, obwohl sie keine trug. Eine alte Geste. Alte Gewohnheiten. Alte Unsicherheiten.
„Ich bin Kagerou Imaizumi. Werwölfin, einsam, gelegentlich mürrisch.“ Sie lächelte schräg, als hätte sie diesen Satz schon öfter geübt, aber nie gesagt. „Und du bist Keine. Die Frau mit den Hörnern. Die Kuh.“ Keine verzog das Gesicht. „Ich bevorzuge ‚Hakutaku‘. ‚Wissensgeist‘. ‚Verteidigerin der Geschichte‘.“ „Ich bevorzuge Leute, die mich nicht anschreien, wenn ich sie zufällig an einem Vollmond anrülpse.“ „Ich habe nicht geschrien.“ „Noch nicht.“
Ein Moment der Stille dehnte sich zwischen ihnen aus, wie ein zu weit gezogenes Kaugummi zwischen zwei Schülern, die sich gegenseitig zwar mochten, aber nicht zugeben wollten, dass sie sich insgeheim gegenseitig hübsch fanden. Und genau so fühlte sich Keine jetzt. Irgendwie. Obwohl sie das nie so zugeben würde. Nicht mal im Tagebuch, das sie unter dem zweiten Dielenbrett ihrer Bibliothek versteckte. Kagerou trat einen Schritt näher. Ihre Bewegungen waren fließend, wie Wasser, das gelernt hatte, auf zwei Beinen zu gehen. Und Keine spürte das Prickeln wieder. Nicht das von vorhin. Ein anderes. Eines, das man normalerweise nur bekam, wenn man sich vorstellte, wie jemand einem ins Ohr flüstert, während man versucht, ein Sachbuch über historische Landwirtschaft zu lesen. Ablenkend. Verwirrend. Verboten gut.
„Warum bist du hier?“, fragte Kagerou und neigte den Kopf, ein Ohr zuckend wie ein Metronom für verstohlene Gedanken. „Ich... gehe manchmal auf Patrouille. Um das Dorf zu schützen. Vor Wesen wie dir“, antwortete Keine, doch ihre Stimme verriet ein Stück weniger Ernst, als es der Satz eigentlich verdiente. „Und? Bist du enttäuscht? Dass ich kein blutrünstiges Monster bin?“ „Noch nicht“, wiederholte Keine den Satz ihres Gegenübers von vorhin, aber diesmal lächelte sie dabei. Schief. Ein bisschen schuldbewusst. Ein bisschen... neugierig? Kagerou trat noch näher, und Keine konnte jetzt ihren Atem hören. Warm. Wie Tee. Oder wie ein Sturm, der beschlossen hatte, heute mal keine Dächer mitzunehmen.
„Ich verwandle mich auch bei Vollmond, weißt du“, sagte die Werwölfin leise, ihre Stimme fast verloren zwischen Bambus und Wind. „Ich weiß, wie sich das anfühlt. Dieses... Ziehen. Diese Hitze unter der Haut. Dieses Gefühl, dass man zwei ist, aber trotzdem allein.“ Keine nickte. Sie hätte etwas sagen können, etwas Kluges, etwas über Dualität oder Yin und Yang oder das Konzept von Identität in mythologischen Hybridwesen. Aber stattdessen trat sie auch näher. Und ihre Stirn berührte fast Kagerous Schulter. Sie standen da, zwei Wesen, halb Mensch, halb etwas Anderes, und doch ganz in diesem einen Moment, der irgendwie vibrierte, als hätte Gensokyo selbst beschlossen, kurz zu pausieren, um zu sehen, wie es weitergeht.
„Ich bin müde vom Alleinsein“, sagte Kagerou plötzlich. „Nicht weil ich einsam bin. Ich bin’s gewohnt. Aber weil ich’s satt hab, so zu tun, als wäre das normal. Als wäre ich nur ein Schatten unter anderen Schatten.“ Keine hob den Blick. Ihre Augen trafen sich, und etwas klickte. Kein magisches Geräusch, kein Donnerschlag, kein Feuerwerk. Nur ein stilles Einrasten von zwei Zahnrädern, die lange nach einem passenden Gegenstück gesucht hatten.
„Ich... Vielleicht könnten wir... öfter bei Vollmond durch den Wald streifen? Zusammen?“, murmelte Keine, und wenn ihre inzwischen vollständig zur Schau gestellten Hörner erröten könnten, hätten sie geglüht. Kagerou grinste. Nicht breit. Nicht höhnisch. Sondern – zärtlich. Und das war gefährlich. Zärtlichkeit war gefährlich. Sie schlich sich ein, langsam, wie Bambuswurzeln unter dem Haus.
„Ich mag deine Art zu reden“, sagte Kagerou. „Wie ein Lexikon, das in einen Liebesroman gefallen ist.“ „Ich mag deine Art zu schauen“, sagte Keine, „als würdest du mich schon kennen, obwohl wir uns erst vor fünf Minuten fast gegenseitig umgebracht hätten.“
Und so standen sie da, zwischen Flüstern, Mondlicht und dem Duft nach nicht-existierenden Blüten, zwei Gestalten, die sich nie gesucht, aber gerade irgendwie gefunden hatten. Es war kein Kuss, der folgte. Noch nicht. Aber etwas in der Luft versprach, dass einer irgendwann kommen würde.
Vielleicht beim nächsten Vollmond.
Vielleicht schon früher.